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Das Massaker
Dienstag, 22:47 Uhr
Die Nacht hatte vielversprechend begonnen. Im sechsten Stock des Echolon Cascade Casino saßen die Köpfe zweier der mächtigsten Mafia-Familien von Las Vegas zusammen - die Kostroffs aus Russland und die Genoveses aus Italien. Ein Geschäftsessen auf Einladung der Italiener, diskret, exklusiv, tödlich.
Um 23:15 Uhr war alles vorbei.
Die Notbeleuchtung flackerte über ein Schlachtfeld. Zwölf Körper lagen verteilt im privaten Speisesaal, verstümmelt auf eine Weise, die selbst hartgesottene Männer wie Vincent Callahan schlucken ließ. Der Sicherheitschef des Cascade stand in der Tür und versuchte zu verstehen, was er sah. Abgetrennte Gliedmaßen. Unmögliche Wunden. Blut, das in Mustern an den Wänden klebte, die keinen Sinn ergaben.
Die Überwachungskameras zeigten nur statisches Rauschen. Was immer hier geschehen war, es hatte keine digitalen Zeugen hinterlassen.
Die Aufräumarbeiten beginnen
Ben Foster war als Erster bei den Überlebenden. Acht Menschen hatten das Massaker überstanden, wenn man ihren Zustand als "Leben" bezeichnen konnte. Drei Russen und zwei Italiener bluteten aus Stümpfen, wo einmal Hände gewesen waren. Die Schnitte waren sauber, zu sauber - als hätte ein Chirurg mit unmenschlicher Präzision gearbeitet.
Luigi Genovese, Sohn des toten Bosses, klammerte sich an Bens Arm. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein ganzer Körper zitterte. "Es war nicht menschlich, Ben," flüsterte er, während Ben eine Beruhigungsspritze vorbereitete. "Die Schatten... sie haben sich bewegt."
Ben spürte es auch - eine Residual-Präsenz im Raum, etwas Hungriges, Zufriedenes. Er schob das Gefühl beiseite und konzentrierte sich auf seine Arbeit. Methodisch fotografierte er die Szene, sammelte Ausweise ein. Sein Handy vibrierte ununterbrochen - Peter Miller, der paranoide Journalist, bombardierte ihn mit Nachrichten über ein Massaker im Cascade.
Happy Smith begann schweigend mit seiner grausigen Arbeit. Der Veteran wickelte Leichen in Plastikfolie und Tischdecken, seine Bewegungen mechanisch, geübt. Als er den ersten Körper anhob, erstarrte er. Eine Stimme, so klar wie damals in Afghanistan: "Happy... du warst schon immer gut im Töten." Sergeant Miller, seit Jahren tot, flüsterte aus dem Nichts. Happy's Hände begannen zu zittern. Die Schuld fraß sich durch seine Eingeweide wie Säure.
Vincent koordinierte alles mit der Effizienz eines ehemaligen Cops. Iris Oneiros' Anruf kam keine zehn Minuten nach der Entdeckung: "Interne Lösung, Darling. Keine Polizei, keine Presse." Ihre Stimme war ruhig, fast gelangweilt. Vincent stimmte zu, professionell wie immer.
Dann klingelte sein privates Handy. Detective Sarah Chen, seine ehemalige Partnerin: "Vince, wir haben Meldungen über Schüsse bei dir. Was ist los?"
Er versuchte sie abzuwimmeln, legte auf. Zwanzig Sekunden später eine SMS: "Wir sind in 20 Minuten da. Du kannst mir das erklären, oder ich finde es selbst heraus."
Ein langer Dienstag
Während Vincent mit den überlebenden Mafiosi verhandelte - sie sollten ihre Verwundeten mitnehmen, in Schattenkliniken bringen, vergessen was hier passiert war - klingelte wieder sein Handy. Emily, seine sechsjährige Enkelin, konnte nicht schlafen. Ihre Mutter war nicht zu Hause, wieder eine Doppelschicht.
"Opa, kannst du mir Harry Potter vorlesen?" "Hör dir das Hörbuch an, Schatz." "Da ist was im Haus, Opa. Die Katze macht komische Geräusche." "Stell ihr Milch hin, Emily. Ich komme bald."
Vincent jonglierte zwischen beruhigenden Worten für seine Enkelin und harten Befehlen an sein Personal. Die Polizei musste aufgehalten werden. Eine Ablenkung musste her.
Ben hatte die Idee: Merlinda, die älteste Prostituierte des Cascade, würde das Opfer spielen. Ein durchgedrehter russischer Freier auf Fentanyl. Oberflächliche Schusswunden, viel Geschrei, genug Drama für Detective Chen.
Happy war bereits verschwunden. Mit einem Lieferwagen voller in Plastik gewickelter Leichen fuhr er durch die Wüstennacht zu seinem Bruder Juvengas Golfresort. Dort, wo neue Löcher gegraben wurden, wo frischer Beton gegossen werden sollte, fanden zwölf Tote ihre letzte Ruhe. Die Visionen seiner toten Kameraden begleiteten jeden Spatenstich.
Die Belohnung
Iris Oneiros erschien gegen 2 Uhr morgens, makellos wie immer. Ihr Parfum überdeckte fast den Geruch von Blut und Tod. Fast. Sie lobte ihre Männer, verteilte Geschenke wie eine wohlwollende Göttin:
Für Vincent: Karten für "Harry Potter und das verschwundene Kind" im Pyramid. Zwei Vorstellungen, damit er beide Tage mit Emily gehen konnte.
Für Ben: Eine Festanstellung mit doppeltem Gehalt, Krankenversicherung, bezahlter Urlaub. Vincent bürgte für ihn, warnte Iris aber vor Peter Miller - ein Sicherheitsrisiko.
Für Happy: Das Angebot einer Wohnung im Cascade, das er ablehnte. Stattdessen eine großzügige Spende an den Paiute-Stamm.
Der nächste Tag
Die Sonne über Las Vegas brachte neue Erkenntnisse. Happy, erschöpft vom nächtlichen Graben, suchte Eric Munson in dessen Pfandleihhaus auf. Der Rollstuhlfahrer, der im selben verhängnisvollen Einsatz seine Beine verloren hatte, hörte zu, nickte, verstand. Die Last wurde ein wenig leichter.
Ben kehrte zu seiner Schicht zurück. Ashley Parks fröhliches Geplapper war wie Balsam nach der Nacht des Grauens. Er bemerkte, dass Vincent die Nachrichten von Peter auf seinem Handy blockiert hatte, löste die Sperre. Später würde er dem Journalisten antworten. Später.
Vincent traf sich mit seiner Schwiegertochter Sarah zum Frühstück. Sie sah erschöpft aus - eine Doppelschicht wegen eines Massakers zwischen Bikern und Chinesen nahe des Pyramid Casinos. Zwölf Tote, acht Verletzte, die Verletzungen erschreckend ähnlich zu denen im Cascade. Vincent's Magen verkrampfte sich.
Das Treffen mit Detective Chen verlief angespannt. Er gab ihr die Ausweise der toten Mafia-Bosse, wies auf die Parallelen zum Pyramid-Vorfall hin. Sie nahm die Information auf, aber das Misstrauen in ihren Augen blieb.
Die weiße Karte
Bei den Aufräumarbeiten am Nachmittag machte Ben einen Fund. In der Jackentasche eines Toten steckte eine Keycard - reinweiß, nur das Cascade-Logo eingeprägt, keine Farbe, keine Beschriftung. Er gab sie Vincent.
Der Sicherheitschef untersuchte die Karte in seinem Büro. All-Access für Gästebereiche, aber mehr - Zugänge, die er nicht kannte, Bereiche, die auf keinem seiner Sicherheitspläne verzeichnet waren.
Vincent steckte die Karte ein. Iris würde nichts davon erfahren.
Die Schatten werden länger
Drei Männer, verbunden durch eine Nacht des Horrors, gingen getrennte Wege:
Vincent musste herausfinden, was beim Pyramid geschehen war. Und er musste es schaffen, beide Harry Potter Vorstellungen mit Emily zu besuchen, komme was wolle.
Ben stand vor der Aufgabe, Ashley von seinem Jobwechsel zu erzählen. Und Peter Miller brauchte Informationen - der Journalist war vielleicht paranoid, aber er war auch brilliant. Dann war da noch die verstörende Nachricht seines Bruders: Genau dort, wo Happy die Leichen vergraben hatte, sollte ein Brunnen gebohrt werden.
Happy musste mit Ben über Sergeant Millers Geistererscheinung sprechen. Und seinen Bruder davon überzeugen, die Baupläne für das Golfresort zu ändern. Kein Brunnen durfte die Toten stören.
Las Vegas glitzerte in der Wüstensonne, aber unter der Oberfläche bewegten sich Schatten. Was immer in dieser Nacht begonnen hatte, es war noch lange nicht vorbei.
Die drei Männer wussten es noch nicht, aber sie standen am Rand eines Abgrunds, der tiefer war als alles, was sie sich vorstellen konnten. Und unten, im Dunkeln, wartete etwas Hungriges.